Mutter reiste jedes Jahr um die Zeit der Jüdischen Feiertage zu ihrer Familie in der Nähe von Köln, da die Becherbacher Isidorsch nicht besonders religiös waren. Unsere Kaufmann Großmutter war wie unsere Becherbacher Oma Witwe, und unsere Tante Emma, eine Jungfer, wohnte bei ihr.
Während der Zugreise waren wir Buben voller Bewunderung für die wunderschöne Uniform des Schaffners, voller Goldknöpfe und allerlei Reichsbahn-Insignien. Erstaunt stellte der Repräsentant der Autorität fest, daß nicht nur die Dame, sondern auch die zwei blonden blauäugigen Bübchen andersfarbige Reisepapiere hatten; also waren wir Untermenschen, Nichtarier, Feinde, obwohl wir nicht seiner Vorstellung dieses Stereotyps, das wöchentlich in dem Nazi-Blatt "Der Stürmer" erschien, entsprachen.
Seit den sogenannten Nürnberger Gesetzen waren wir Unpersonen – Heiden - geworden, für die der Schutz durch das Landesrecht nicht galt. Also konnte der Schaffner wie ein jeder Christ im feudalen Mittelalter mit uns tun und lassen, was ihm gerade einfiel. Es fiel ihm nichts Besseres ein als durch den Wagen zu gehen und zu brüllen: "Rassenschande!" Damals eine kriminelle Tat. Unsere Mutter fand dieses Vorkommnis so blöd, daß sie es überall erzählte als Beweis dafür,daß das Volk dumm sei, so wie unser Vater es oft behauptet hatte.
(Dieses Konzept von der Rassenschande wurde ursprünglich von deutschen Siedlern in der deutsch-südwestafrikanischen Kolonie Namibien entwickelt und in das Mutterland exportiert.)